Diesen Blog durchsuchen

Tagebuch des Winzers Josef Euskirchen


Heimische Winzernot in den 1850er Jahren

Aus den Tagebuchaufzeichnungen des Scheurener Winzers Josef Euskirchen aus den Jahren 1853 und 1854

Quelle: Lehrer J. Wies aus Unkel im Heimat=Blatt und Geschichtschronik für die ehemaligen Wied'schen und Nassauischen Lande, für Westerwald, Eifel und Mittelrhein, Beilage zur Neuwieder Zeitung, 10 Jg. Nr. 6, 14.4.1931, 41-44, erneut redigiert veröffentlicht im Heimatkalender 1932 (hier lautet der Name des tagebuchführenden Winzers nun Josef Euskirchen, statt Joseph Mürl und die verwandte Familie, die das Tagebuch aufbewahrt Peter Mürl in Scheuren)  



1931 veröffentlichte der Lehrer J. Wies aus Unkel unter dem Titel „Winzernot in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts – Aus den Aufzeichnungen eines Winzers“ in einer Beilage der Neuwieder Zeitung einen Beitrag aus dem Leben des hiesigen Winzers, Joseph Mürl. 1932 veröffentlichte er den Beitrag überarbeitet erneut und korrigierte den Namen des Winzers in Josef Euskirchen.

Diese Winzer führte, selten für Winzer in dieser Zeit, eine Tagebuch, in dem er handschriftlich Beobachtungen und Eindrücke über das Wetter, die Ernte, die Wirtschaftslage und seine Gemütslage festhielt.

Dieses Tagebuch mit Aufzeichnungen aus den Jahren 1853 bis 1855 wurde von der Familie Peter Mürl in Scheuren als eine Art Familienchronik wie ein Schatz gehütet.

Josef Euskirchen schreibt unter anderem Folgendes: 

10. Januar 1853. 
Verflossene Nacht war der Himmel sternenhell und doch war es diesen Morgen nicht das mindeste gefroren; den Tag hindurch ziemlich schneekalt. Heute versicherte mir der alte Braun, ein 86jähriger Greis, noch nie einen solchen gelinden Winter, wie diesen, erlebt zu haben. Dabei sagte er, es geht entweder ganz gut oder ganz schlecht, aber ein gutes Jahr muß auch früh anfangen und gutes Wetter bringen. Aber wir Winzer können uns auf das „beste Jahr“ kaum mehr freuen, denn der Weinhandel scheint verflucht zu sein und an unserer Rettung müssen wir bald verzweifeln. Doch das Sprichwort sagt: „Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilf am nächsten.“

13. Januar 1853. 
Den ganzen Tag warmes Regenwetter. – Fruchtpreis: Das Korn 7 Taler 12 Silbergroschen, Weizen ebenso, Bohnen 10 Taler, Erdäpfel 2 Taler – aber nach dem Wein fragt kein Mensch. Es ist grad, als ob die Winzer vertilgt werden sollten. Ein elender Zustand!

21. Januar 1853. 
Den ganzen Tag trübes, rauhes Wetter. Heute verkaufte ich ein Faß 1850er, die Ohm zu 5 Taler, und nun bin ich übler dran wie zuvor, denn wo man schuldig ist, will jeder Geld haben.

21. Februar 1853. 
So wie heut morgen hat ich den Schnee noch nie gesehen. Man findet Stellen genug, wo derselbe 5 Fuß hoch lieget. Im allgemeinen kann man 2 bis 3 Fuß annehmen und es schneit auch immer fort und am Abend wieder stark. – Heut war man allgemein beschäftigt, auf der Landstraße, in den Gassen, in den Höfen und auf den Speichern den Schnee aufzuscheppen und auf die Seite zu schaffen. – Heut morgen war ich bei der Begräbnisfeier des Joseph Clouth. Der Postwagen und ein Fußgänger waren vor mir durch den Schnee gewatet, an den meisten Stellen ging er bis an die Knie.

24. Februar 1853. 
 Die verflossene Nacht haben wir noch um ½ Fuß Schnee gewonnen und diesen Morgen hats von 6 bis gegen 8 Uhr so geschneit, als wenn noch großer Überfluss vorhanden sei. Wir wollen uns des ungeheuren Schnees gern getrösten, wenn wir nur nicht noch strenge Kält dazu bekommen, denn der Weinstock steht in der größten Gefahr und doch hört und sieht man nichts von Weinkaufen; Gott wolle doch ein besseres Los über uns Winzer verhängen! Von 9 bis 11 Uhr hat es ebenfalls geschneit, die übrige Zeit heitere Luft und gegen Abend wird es wieder kalt. Wir haben jetzt eine ungeheuere Masse Schnee und man fürchtet nicht ohne Ursache eine große Wasserflut; in den Höfen weiß man fast nicht mehr, wie man den Schnee auftürmen soll. – Der Wind war Nordwest.

3. März 1853. 
Heute ist gelinde Kält und von des Morgens früh an bis Mittag wieder Schnee; gegen Abend fängt es wieder an zu frieren. – Mein Bruder Egidius (Schlosser) arbeitet jetzt an seiner Werkstätte in unserm Wohnhause, die schreckliche, „geldlose“ Zeit macht mir nicht wenig Bedrängnis und gar mache schlaflosen Nächte. Es wurde mir vor einigen Tagen für unsern 1852er Wein von dem Herrn Piera aus Remagen 12 Taler geboten, doch konnte ich mich zu diesem Verkauf trotz der furchtbaren Not nicht entschließen. Ich hatte den Preis auf 16 Taler gesetzt und wenn mir 14 Taler geboten werden, so verkaufe ich, denn der Weinhandel kann nicht schlechter werden, als er jetzt ist.

7. März 1853. 
Den ganzen Tag milde Luft und der Schnee ist tüchtig am Zusammenfallen, so dass die Bäche sehr anschwellen. – Heut hab ich in unserem Garten eine „Knollenkuhl“ aufgemacht und die Knollen waren um die Hälfte faul. Wenn man den Weinhandel betrachtet, so soll man fast glauben, der liebe Gott hätte wahrhaftig den Fluch über uns Winzer ausgesprochen und es fängt an, mich zu reuen, dass ich unsern Wein am 3. d. M. nicht zu 12 Taler verkauft habe, auf diese Art verdirbt einer dem andern seine Sache. Aber Not bricht Eisen! Ich tue es noch nicht. – Herr, laß uns Winzer doch nicht ganz zu Grunde gehen, denn es ist doch schon genug, dass man uns zum „Gespött“ braucht!

21. März 1853. 
Als wieder tüchtig kalt; doch ist es des Nachmittags etwas oben über aufgethauet. – Um 5 Uhr war um die Sonne ein großer Kranz; nach dem Augenmaß ungefähr 50 Schritt von derselben entfernt und an beiden Seiten ein Widerschein von der Sonne; es sah aus, als wenn 3 Sonnen am Himmel ständen. Desselben Abends war eine doppelte Erscheinung am Mond. Was soll das alles bedeuten?

24. März 1853. 
Ostern! Heut morgen um 3 Uhr weckte mich mein Bruder Egidius. Er rief: „Joseph steh auf und mache, dass ich Thee bekomme. Ich sterbe gewiß, denn ich kann keinen Atem bekommen.“ Dieses gab einen großen Schrecken für die alte Barbara. Mit Theetrinken haben wir das Übel gehoben und wir hoffen, dass es nicht wiederkehrt. Gott wolle seinen Segen dazu geben. – Diesen Morgen war es wieder tüchtig gefroren. Wir hatten als wieder Eis an unsern Schlaffenstern. Den Tag hindurch heitere Luft, aber kalten und scharfen Nordwind. Man sieht noch hier und da Schnee liegen.

17. April 1853. 
Ein stiller, trüber, warmer und regenreicher Tag; überhaupt fruchtbares Wetter. Nur mit dem Pflanzen und mit der Arbeit im Weinberg weiß man nicht voran zu kommen. Es ist mit den Winzern schon soweit gekommen, dass man schon thraurig wird, wenn der Tag graut, denn täglich wird man auf Bezahlung gedrungen und bedrohet und man weiß auf keinen Schlag zu helfen.

28. April 1853. 
Des Morgens hart gereift und darauf ein schöner, heiterer Frühlingstag. – Heut verkaufte ich an den Gastwirth Simrock in Bonn ein Faß 1852er, die Ohm zu 15 Taler. Ich war froh, dass ich noch so gut verkauft habe und auch wieder traurig, weil ich so wenig mit dem Geld ausrichten kann. Welch elendes Leben!

1. Mai 1853. 
Ein sehr trüber, kühler Tag. Das gestrige Gewitter hat die Luft ganz versetzt. Dieses ist kein gutes Zeichen. Die Weinknoppen sind kaum am Treiben und doch kann man schon sehen, dass viele gelitten haben, denn sie wollen gar nicht weiter wachsen. Deswegen haben wir gestern am Kupferberg schon einen Weinberg ausgehauen; er war bereits gestickt und gegürtet. – Heute Morgen erklärte der Doktor Oberstadt meiner Schwester Christine, dass unser Bruder Egidius die Schwindsucht habe. O lieber Gott im Himmel, ich murre nicht gegen deinen hl. Willen, aber auf diesen Bruder hatte ich große Rechnung gemacht. Als ein tüchtiger Schlosser wär er eine kräftige Stütze gewesen für unsern Haushalt, aber wenn er stirbt, so weiß ich keine Ausweg mehr; denn mit dem Weinbau können wir uns nicht aus unsern großen Schulden herausreißen.

19. Juni 1853. 
Bis in den Nachmittag war es ziemlich heiß. Von 5 bis 6 Uhr ein Gewitter über der andern Rheinseit, aber hier gab es ungefähr keinen Regen. – Jetzt wird mit großer Strenge auf die Steuer getrieben, trotzdem die meisten Leuth sich in einem entsetzlichen geldlosen Zustande befinden. Ich weiß nicht mal die Pfennige für ein Päckelchen Tabak beizubringen. Und dann auch noch der kranke Bruder! Nun soll bezahlt werden. Die „Schuldleuth“ weisen die Zähne; nach dem Wein fragt aber kein Mensch. Der Gedanke an Gott ist noch das einzige, was mich noch aufrecht hält, sonst wär die Verzweiflung an der Thür.

3. Juli 1853. 
Heute ist Kirmes; aber ich bin eher für eine Requiems-Messe gestimmt, als für Kirmes. Die Mutlosigkeit der Winzer ist wirklich nicht mehr zu beschreiben. Da kann man sich denken, dass man keine frohe Kirmesstimmung haben kann. Wann wird’s endlich einmal besser werden für uns Bauers- und Winzersleuth?

10. Juli 1853. 
Ein trüber, warmer Sommertag! Die Luft stellt sich Gott sei Dank auf Regen. (Die Trauben sind schon verblüht.) Ein tüchtiger Regen wär uns jetzt sehr nötig, denn die strenge Hitz hat dem Getreide sehr zu Leib gesetzt. – Jetzt geht der fremde Wein auch ohne Zoll ein. Nun wird man uns Winzern den Herzstoß versetzen.

16. August 1853. 
Ein trüber, warmer Tag. Man kann auf dem Feld umstechen; in den Weinbergen ist der Regen aber nicht über ¼ Fuß eingedrungen. Wie es scheint, so wird das künftige Jahr als wieder ein sehr schlimmes für die wenig Bemittelten werden, denn das Korn kostet schon 8 Taler per Malter und die Erdäpfel 3 Taler per Malter – und der Wein ??? ---

8. September 1853. 
Maria Geburt. Es sind fast an allen Weinstöcken gefärbte Trauben; aber „bunt“ ist’s noch bei weitem nicht. Und trotz der schlechten Aussicht auf den Herbst ist doch noch keine Nachfrage nach dem letztjährigen Wein, der doch mit Recht unter den mittelmäßigen Wein gerechnet werden darf. Wenn das verfluchte „Schaptalisieren“ und Fabrizieren nicht aufhört, so sind wir Winzer verloren. Auch soll jetzt der fremde Wein gegen eine sehr geringe Abgabe Eingang haben. Es ist grad, als wenn uns der Himmel verlassen und die Hölle sich gegen uns verschworen hätte. Lug und Trug, Spitzbuberei und Kanailljerei sind jetzt an der Tagesordnung.

27. November 1853. 
Erster Adventssonntag. Heut morgen war alles weiß mit Schnee und den Tag hindurch schneekalte Luft. Auf den höchsten Bergen ist Schnee noch am Abend. – Die Frucht ist etwas abgeschlagen, das Brot auch 4 Pf., doch kostet es immer noch 7 Silbergroschen. – Auf den hiesigen Bergwerken (bei Rheinbreitbach) steht der Tagelöhner in einem guten Lohn, auch der Landmann seht sehr gut, aber der Winzer ist die erbärmlichste Kreatur unter der Sonne, denn die Noth und Armuth wächst ihm über den Kopf. Ich für mein Teil muß gestehen, dass ich keinen Ausweg mehr finde und alles gehen lassen muß, wie das Schicksal will.

9. Dezember 1853. 
Ein ganz trüber, schneekalter Tag. – In acht Tagen muß ich 30 Taler Moststeuer und 8 Taler Königlich- und Gemeindesteuer bezahlen und habe noch keinen Pfennig; auch weiß ich noch nicht, woher ich das nehmen soll. Kreuz und Noth zieht mir gleich einem Gewitter über dem Kopf zusammen.

16. Dezember 1853. 
Trüb und kalt und mitunter droht es zu schneien. Diesen Morgen war zu Unkel in der Kirch im Weih-Stein Eis gefroren. – Täglich kommen Geldforderungen, Mahnungen, Exekutionen, so dass ich den Entschluss fassen muß, sobald mein Bruder Egidius in die Ewigkeit ist, unserer Geschwister-Haushaltung ein Ende zu machen, denn ich finde anders keinen Ausweg mehr. Von einem Jahr zum andern hofft man auf einen reichen Herbst, aber es scheint, dass die Winzer ausgerottet und zu Grab getragen werden sollen.

23. Dezember 1853. 
Den ganzen Tag Schnee. – Nun habe ich die Königl. und Gemeindesteuer ausbezahlt. Aber was wird es mit der Moststeuer geben? Täglich habe ich die Exekution zu erwarten. Ich bin froh, wenn es Nacht ist, denn wenn man die Lage der Winzer betrachtet, so steht einem der Verstand still.

3. Januar 1854. 
Ein stiller, kalter, ziemlich heiterer Tag. – Heut haben wir unsern vielgeliebten Bruder Egidius begraben. Gott gebe ihm die ewige Ruhe! Was es nun mit unserer Geschwister-Haushaltung geben wird, das weiß der Himmel. Aber dieses neue Jahr blickt mich schauerlich an, denn unsere beste Stütze ist uns entrissen. Doch wollen wir auf Gott vertrauen, denn er ist der Schützer der Witwen und Waisen und so wird er uns auch nicht verlassen ...



So weit die Schilderungen von Josef Euskirchen in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts zur damaligen Notlage vieler Winzer. Auch die Folgejahre brachten meist Not und Kümmernis. Heute gibt es in Scheuren und Rheinbreitbach keinen Erwerbsweinbau mehr. Allein einige Hobbywinzer halten das Fähnlein des ehemals stolzen heimischen Weinbaus hoch.