Kurfüst Emmerich Joseph von Mainz und die Bauernfrau von Zahlbach
Aus: Die Spinnstube 1865, 176 ff.
Emmerich Josef von Breitbach zu Bürresheim (1707 - 1774)
(Kanzler des Deutschen Reiches, Kurfürst und Erzbischof von Mainz)
Bild: Wikipedia, Orginal: Schloss Bürresheim
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Der Kurfürst Emmerich Joseph von Mainz war ein höchst gutmütiger und menschenfreundlicher Herr, der indessen einem heiteren, fröhlichen Lebensgenusse, lustiger Gesellschaft und einem Becher edlen Rheingauer, Hochheimer oder Steinberger Weines mehr huldigte, als es sich bisweilen mit seiner geistlichen Würde vertragen mochte.
Im Volke trug man sich mit mancherlei Geschichten, wie nach der üppigen Tafel der gute Fürst es deutlich merken lasse, dass er einen Becher zu viel geleert und dass dies oft seiner natürlichen Sanftmut und Gutmütigkeit Eintrag tue. Dies sollte sich besonders in den Gehörstunden oder Sprechstunden bemerklich machen, die der Fürst nach aufgehobener Tafel zu halten pflegte und wo jeder seiner Untertanen freien Zutritt zu ihm hatte.
In Mainz pflegte der Kurfürst meist nur im Winter zu verbleiben. Im Sommer zog ihn die schöne Gegend und das schöne Schloß von Aschaffenburg mächtig an und die herbstliche Zeit hielt er sich gerne an Orten auf, wo eine reiche Jagd ihre Freuden ihm eröffnete. Sein Hof war ein sehr üppiger und seine Hofhaltung eine sehr verschwenderische.
Das kleine Heer, welches der Kurfürst als Reichsfürst zu dem Reichsheere, buntscheckigen und nicht immer sehr tapfern Andenkens, zu stellen hatte, war nach dem Frieden, welcher den siebenjährigen Krieg abschloß, nach Mainz in einem traurigen Zustande zurückgekehrt. Sein Aussehen war mehr als jämmerlich, aber seine Reihen waren überdies so außerordentlich gelichtet, dass es vollständig zu machen, die Herren vom Kriegsrate den gemessensten Befehl erhielten. Bei der Aushebung erschien auch ein Bursche von Zahlbach bei Mainz, unter den Dienstpflichtigen, der seiner Schönheit und kräftig-edeln Gestalt wegen die Augen der Kriegsherren auf sich zog. Er war einer armen Witwe einziger Sohn und das Gesetz verbot unbedingt, ihn unter die Waffen zu stellen, da er der Mutter Versorger war.
Wie es nun manchmal in der Welt zu gehen pflegt, so ging es auch hier. Man lässt Gesetz Gesetz sein und nahm den schönen Burschen seiner trostlosen Mutter. Alles Bitten und Flehen blieb unerhört. Ach, wäre doch der Herr Kurfürst hier, solche Ungerechtigkeit würde nimmer geschehen, jammerte das arme Weib. Aber nun muss er auch gerade in Aschaffenburg sein! Das liegt nicht außer der Welt! sagte ein wohlwollender Mann zu ihr. Gehet doch hin, so wird Euch gewiss geholfen; denn solche Gewalttat und Gesetzwidrigkeit duldet der gutmütige Fürst gewiss nicht. –
Was blieb da übrig, wenn sie nicht an den Bettelstab kommen sollte, als den vierzehnstündigen Weg zu machen? Wohlwollende Leute unterstützten die Arme, dass sie mit dem Marktschiffe bis Frankfurt fahren konnte. Das kostete sehr wenig und, nachdem sie in Frankfurt bei einer Base, die dort in einem vornehmen Hause Haushälterin war, übernachtet hatte, machte sie sich frühzeitig auf den Weg; aber der betagten Frau gelang es erst mit der sinkenden Nacht, Aschaffenburg zu erreichen.
„Zum wilden Manne“ war ein Wirtshäuslein, das Landleute herbergte. Jetzt sieht es freilich anders darin aus als damals und die Zeiten sind andere geworden. In diesem damals äußerst bescheidenen Wirtshäuslein fand die Witwe Obdach und Nachtlager, denn eines Weiteren bedurfte sie nicht, weil sie hinlängliche Vorräte an Lebensmitteln, wie es die Sitte heischte, von Hause mitnahm und diese milderten die Wirtszeche, ohne dass der Wirt, der das aus reicher Erfahrung kannte, bitter dazu sah. Dass die Frau arm war, das sah ihr der äußerst gutmütige Wirt bald an; aber auch noch etwas, nämlich daß ein schwerer Kummer sie drückte. Der Schlüssel zu einem gedrückten Herzen ist – Teilnahme, und die wohnte in dem Herzen des Mannes. Das Herz der Witwe öffnete sich bald und schnell und der Wirt vernahm, wie ungerecht und ungesetzlich man gegen das arme Weib gehandelt.
Wenn Ihr darum den weiten Weg hierher gemacht habet, Frauchen, sagte er, so ist es ganz wohlgetan von Euch, und ich wette Hundert gegen Eins, dass Eures Herzens Wunsch erfüllt wird – nur – müsst Ihr nicht nachmittags in's Schloß gehen, sondern alles aufbieten, morgens vorgelassen und gehört zu werden. Ei, warum denn? fragte die Frau. Nun, der gnädige Herr Kurfürst liebt eine reichlich und vortrefflich besetzte Tafel und trinkt dann gerne seinen Becher von Anno extra und zeitlich etwas mehr davon, als ihm gut ist. Dann langweilt's ihn, wenn viele Bittsteller da sind; er wird ärgerlich und fährt dann nicht nur oft die Leute hart an, sondern er entscheidet auch bisweilen hart und falsch und die armen Bittsteller zahlen die Schuld dafür, dass dem gnädigen Herrn Kurfürsten der Wein zu gut geschmeckt hat. – Der Wildemannswirt hatte der verständigen, alten Frau genug gesagt. Sie legte sich beruhigter, als seit vielen Tagen zu Bette und betete, ehe sie einschlief, zu dem Herrn, der ja der Fürsten Herzen lenket, wie Wasserbäche.
Sie stand, wie es ihre Zahlbacher Sitte war, frühe auf, betete wieder inniglich und wartete dann, bis dass der gutmütige Wirt sagte, nun sei es Zeit! Sie machte sich voll froher Hoffnung auf den Weg und war Punkt 11 Uhr morgens am Schlosse. Niemand beachtete das Mütterchen und ungehemmt gelangte sie in das kurfürstliche Vorzimmer, das ihr der Wirt genau beschrieben hatte. Es war eben leer und nicht einmal ein Bedienter befand sich darin. Beherzt setzte sie ſich auf einen Stuhl, um einen der Diener, die ja doch kommen mussten, zu bitten, dass er sie bei dem Kurfürsten melde. Nicht lange sass sie da, als ein kurfürstlicher Diener hereintrat und mit Erstaunen die Bauersfrau erblickte. Wie seid Ihr denn hierher gekommen, und was wollet Ihr? fragte dieser ziemlich barsch. Die Witwe erhob sich, knixte und sagte, sie müsse noch diesen Morgen den Herrn Kurfürsten sprechen. Sie erzählte nun lebhaft ihre Lage und bat, dass er sie melde.
Der Bediente sagte, unwillig darüber, dass die Frau so ohne Weiteres hereingedrungen, das könne ganz und gar nicht sein; denn die Stunden, da der Herr Kurfürst Gehör gebe, seien die Stunden nach der aufgehobenen Tafel. Da müsse sie wiederkommen. Das will ich aber nicht, sagte die Frau. Ich muss den gnädigen Herrn Kurfürsten vor Tisch noch sprechen. Meine Sache duldet keinen Aufschub! Der Bediente blieb natürlich auf seinen Befehlen und der Ordnung, welche eingeführt war, und ein Wort gab das andere, bis die Verhandlung der beiden im Vorzimmer so laut wurde, dass sie die Aufmerksamkeit des Kurfürsten erregte, der in seinem Kabinette war und sofort die Türe öffnete, um zu sehen, was es da gebe. –
Als die Witwe von Zahlbach ihren gnädigen Herrn Kurfürsten erblickte, den sie in Mainz wohl oft gesehen, da kam ein Schrecken über sie und sie, die so beredt ihre Sache gegen den Bedienten geführt, verstummte plötzlich und machte einen tiefen Knix. Der Kurfürst fragte sofort den Bedienten nach der Ursache des lauten, störenden Gespräches, und als dieser genau den Hergang mitteilte, wandte sich der Fürst an die Witwe und beschied sie ebenfalls auf den Nachmittag und wollte eben die Türe des Kabinettes wieder schliessen, als der verzweifelte Mut die Seele der unglücklichen Mutter erfasste, und sie sich weinend auf die Kniee warf, ihre gefalteten Hände zu dem Kurfürsten erhob und um Gotteswillen die Gnade erflehte, sie doch jetzt gleich und nicht nach der Tafel anhören zu wollen. –
Der Zusatz: nach der Tafel, den die Frau so außerordentlich betont, befremdete den Kurfürsten, aber der tief innige Ausdruck des armen Weibes rührte Emmerich Josephs mildes, menschenfreundliches Herz. Er gebot ihr, aufzustehen und in sein Kabinett einzutreten. Jetzt ging das Herz des armen Weibes auf. Ja, das war der edle milde Fürst, wie ihn der Wirt geschildert! Nun konnte sie denn auch ohne Hehl reden, wie es ihr um's Herz war, und sie tat es, und jedes ihrer Worte war von Tränen begleitet. Mit aufrichtiger Teilnahme und Rührung hörte der menschenfreundliche Fürst sie an; aber sein Zorn wallte auf, als er von der Willkür seiner Räte hörte, die dem Gesetze schnurstracks entgegengehandelt hatten, indem sie der Witwe einzigen Sohn zum Soldaten nahmen.
Ich werde sofort diese Sache genau und scharf untersuchen, sagte er, und finde ich, wie ich nicht zweifle, alles so, wie Ihr mir gesagt habet, so bürgt Euch mein Fürstenwort, dass Euer Sohn Euch sogleich zurückgegeben werden wird! Als nun die hocherfreute Witwe sich unter Worten und Tränen des Dankes entfernen wollte, da sagte Emmerich Joseph: Bleibet noch einen Augenblick, liebe Frau; Ich habe Euch genügt; aber nun müsset Ihr mir offen, wahr und ehrlich sagen, warum Ihr nicht nach der Tafel kommen wolltet, um Euer Anliegen mir vorzutragen und gerade die Worte: „nach der Tafel“ so ausdrücklich betont habet? –
Die Frage war ein Donnerschlag für das arme, ehrliche Weib. Sie erfüllte sie mit Todesschrecken. Konnte sie, durfte sie das, was sie von dem Wildenmannswirte und auch von andern, ehrbaren Leuten über die Trunkliebe des Landesherrn gehört, diesem selbst, so mir nichts, dir nichts, in's Angesicht sagen? Sie erbleichte und zitterte sichtbarlich. Dieses und ihr angstvolles Schweigen machte den Kurfürsten noch neugieriger, aber diese Neugierde war mit einem Gefühle gemischt, das offenbar aus einer Ahnung dessen, was die Frau dazu bewogen, hervorgegangen war. Als die bebende Frau nicht mit der Rede herauswollte, gebot er ihr mit grossem Nachdrucke und Ernst, ihm die ganze, volle Wahrheit zu sagen, wie sie auch ausfallen möge, und überzeugt zu sein, dass dies ihr nicht bei ihm schaden werde.
Da fiel zitternd und behend das bedrängte Weib auf ihre Kniee vor dem Kurfürsten, faltete flehend ihre Hände und erhob sie gegen ihn und stotterte unter rinnenden Tränen: Ach, Kurfürstliche Gnaden, die Welt ist so schlimm! Ach, strafet mich nicht zu hart, wenn ich – sagen muss, – was – sie sagt! – Sie stockte wieder und schluchzte laut. – Und was sagt sie? rief der Kurfürst, und – hätte die Frau mit scharfem Ohre zu hören vermocht, sie würde selbst an der Stimme ihres Landesherrn ein leises Wanken haben vernehmen können. Ich gebe Euch mein fürstliches Wort, fuhr er fort, daß Eure Rede Euch keine Strafe, keinen Nachteil zuziehen wird, wenn Ihr bei der einfachen Wahrheit bleibet! Da stotterte das bedrängte Weib: Ach – sie sagen, Euere Kurfürstliche Gnaden wären allemal nach der Tafel – betrunken, und dass dann die Entscheidungen nicht immer nach Recht und Gerechtigkeit ausfielen! –
Wenn auch allerdings das, was das Weib sagte, nicht eben völlig und ganz aus der Luft gegriffen war, und der Kurfürst in lustiger Gesellschaft einen Becher über den Durst trank, so war doch das Wort: „betrunken“ nie auf ihn anwendbar gewesen, wenigstens nicht in dem Sinne, in dem es von dem Volke gebraucht wird. Der Eindruck auf den Fürsten war ein gewaltiger. Er wurde bleich und rief in der höchsten Aufregung aus: Frau, das ist eine heillose Lüge! Ich befehle Euch, allen, die mich so frech und unverantwortlich beschuldigen, zu sagen, dass der Kurfürst und Erzbischof von Mainz sich niemals betränke! Höchlich erschreckt von dem tiefen Unwillen und dem schweren Ernste, womit Emmerich Joseph die ihr von ihm doch abgerungene Erklärung aufgenommen, glaubte die arme Frau den hohen Herrn jetzt nur durch ihre feste Zusage des unbedingten Gehorsams wieder besänftigen zu können, und sagte, so recht aus Herzensgrunde:
Ach, Gnaden, Herr Kurfürst, das glaub' ich ja von Herzen, und hab' es Euch ja gesagt, dass die Welt heutzutage so schlimm ist; den Gefallen will ich Euch aber gerne tun, ob ich gleich fürchte, dass es wenig fruchten wird, weil sie es alle sagen und es besser wissen wollen, als unsereins. Eine arme Frau wird nicht gehört. –
So tief auch der Kurfürst erregt war, so schwebte doch bei dieser Äußerung des arglosen Weibes ein Lächeln über seine Züge. Er reichte der noch immer knieenden Frau seine Hand und entliess sie freundlich und gnädig.
Das, was im Volke umgeht, gelangt selten ungeschminkt zu den Ohren der Gewaltigen in dieser Welt; am Wenigsten das Nachteilige über sie selbst; die Hofleute bilden eine unübersteigliche Mauer um den Fürsten. Hier aber war die Wahrheit einmal nackt und einfach zu dem Ohre gedrungen, das unter allen Umständen die Wahrheit hören sollte. War sie auch übertrieben, unwahr und verleumderisch, die Rede des Volkes, so lag doch eine Folge nahe, und das war das apostolische Wort: Meidet auch den bösen Schein! Und dieses Wort war tief in die Seele des auch für alles, was gut, empfänglichen Fürsten gedrungen. Er schwieg gegen seine Umgebung über die Tatsache, aber sie lag doch schwer auf seiner Seele und das Wort der Witwe von Zahlbach hallte immer neu in seinem Innern wieder.
Dass der Kurfürst das „Nachsitzen“ nach der Tafel aufhob und selbst dem gemütlichen Gespräche entsagte, das dann ihn für manche schwere Stunde zu entschädigen pflegte – war eine für den engeren Kreis der Vertrauten ebenso unerklärliche Erscheinung, als dass die Stunden, da der Kurfürst seinen Untertanen Gehör zu geben pflegte, plötzlich und für immer auf die zwei Stunden vor der Tafel verlegt wurden. Hätte der kurfürstliche Kammerdiener nicht im Schlafkabinette die Unterredung mit angehört, kein Mensch würde davon gehört haben. –
Die Witwe aber erfuhr, wie der menschenfreundliche Herr sein Wort hielt; denn sie war kaum vierzehn Tage daheim und hatte sich von den Beschwerden und Ängsten der Reise erholt, da trat eines Abends ihr Sohn in ihr Stübchen und rief freudig aus: Gott ehre den Kurfürsten! Er hat Eure Bitte erhört; ich bin frei! Da war Preis und Dank gegen Gott in des Weibes Seele, und wer fortab in ihrer Nähe etwas über den Kurfürsten sagte, der hatte es mit ihr zu tun.
Aber auch die Herren vom Kriegsrate erfuhren die Folgen jener Unterredung. Der Kurfürst hatte eine gründliche Untersuchung angestellt, und alles so befunden, wie die Witwe gesagt. Sein Zorn gegen dieses willkürliche und ungesetzliche Verfahren war sehr heftig und die Nasen, welche diese Herren zu besehen bekamen, waren sehr länglich, und Keiner hat sich derselben jemals rühmen mögen. Sie mochten von Glück sagen, dass sie in ihren Ämtern blieben. Soviel aber steht fest und geht aus dieser Geschichte, die eine verbürgte Tatsache ist, hervor, dass es ein rechter Segen für sie selbst und das Volk wäre, wenn die ungefärbte Wahrheit immer und überall zu den Ohren der Fürsten und Könige dränge. –